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Recht auf Wohnen: Obdachlosigkeit ist ein Systemfehler - Interview

Die Kanadierin Leilani Farha ist seit 2014 UNO-Sonderberichterstatterin über das Recht auf Wohnen. Wir sprachen mit ihr über leistbaren Wohnraum, Obdachlosigkeit und darüber, was Städte lebenswert macht.

KONSUMENT: Sie stehen in Ihrer Tätigkeit für die UNO für das Menschenrecht auf Wohnen ein – was auf den ersten Blick schwer greifbar wirkt. In welcher Form existiert dieses Recht?

Farha: Es steht in vielen internationalen Menschenrechtsverträgen festgeschrieben, zu denen sich die Regierungen dieser Welt verpflichtet haben. Und es steht in der UN-Menschenrechtscharta, die ja immerhin schon seit 70 Jahren Leilani Farha ist seit 2014 UNO-Sonderberichterstatterin über das Recht auf Wohnen. Bild: VKIgilt (im Artikel 25 ist dort zu lesen: „Jeder Mensch hat das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohl für sich selbst und die eigene Familie gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände“, Anm.).

Geht es um mehr als vier Wände und ein Dach?

Genau – wobei ein Dach über dem Kopf die Grundvoraussetzung ist.
Aber das Menschenrecht auf Wohnen heißt auch: leben in Sicherheit und Frieden, leben mit Würde. Und gerade wenn es um die Würde geht, zeigt sich sehr schnell und plakativ, worum es geht: Sie gehen an einem Menschen vorbei, der auf der Straße leben muss. Glauben Sie, dieser Mensch lebt ein Leben in Würde? Keine Toilette, keine Dusche, kein Bett. So wird es schnell klar, was das Recht auf Wohnen wirklich bedeutet.

Aber man könnte doch sagen: Jemand, der auf der Straße lebt, nicht arbeiten geht, der hat dieses Recht verwirkt …

Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren in diesem Bereich. Ich habe keinen obdachlosen Menschen getroffen, der es nicht vorziehen würde, für sich selbst zu sorgen, arbeiten zu gehen – und dafür nicht auf der Straße leben zu müssen beziehungsweise von Sozialleistungen abhängig zu sein. Hintergrund der Obdachlosigkeit sind ja oft psychosoziale oder physische Faktoren. Oder beides. Bisweilen ist auch eine Drogensucht im Spiel. Die Zahl derer, die es wirklich aus freien Stücken vorziehen, auf der Straße zu leben, ist klein. Menschen wollen ein anständiges Zuhause.

Wie kann man diesen Menschen helfen?

Obdachlosigkeit wird insbesondere in vielen Ländern mit hohem Bruttoinlandsprodukt, also solchen, die man gemeinhin als reich bezeichnen würde, immer mehr zu einem enormen Problem. Obdachlosigkeit ist ein Systemfehler. Der Staat schafft es nicht, das Recht auf Wohnen umzusetzen. Insbesondere Städte sind die Antreiber der Wirtschaft. Dort ist aber auch das Problem der Obdachlosigkeit am größten. Deshalb sollte es im Interesse aller politischen Entscheidungsträger sein, konzertiert an Lösungen zu arbeiten, die sicherstellen, dass alle Bürger Zugang zu angemessenem und leistbarem Wohnraum haben. Um das zu schützen, was Städte so großartig macht: Diversität und Inklusion. Deshalb muss das Menschenrecht auf Wohnen wieder stärker ins Bewusstsein gerückt werden. Es muss auch als Synonym gesehen werden für Gleichheit, Würde und Teilhabe an der Gesellschaft – wider die Ungleichheit der Macht- und Vermögenskonzentration. Es geht darum mitzuhelfen, und das beginnt bei jedem Einzelnen von uns, genau diesen Wandel herbeizuführen, der Wohnraum als ein Menschenrecht anerkennt, und nicht als Anlageprodukt oder als Wirtschaftsgut.

Die Antworten liegen bei den Menschen

Das werden die großen Immobilienfirmen wohl anders sehen? Gibt es einen Austausch zwischen Ihnen und der Immobilienbranche bzw. Investoren?

Ich wäre sehr daran interessiert. Zum Beispiel habe ich mich um ein Treffen mit Blackstone bemüht, eine der, wenn nicht die größte Immobilieninvestment-Firma der Welt. Bisher haben sie leider nicht mit mir gesprochen. Vielleicht werden sie es noch, ich hoffe es. Wir hätten sicher viel zu bereden. Denn eine gemeinsame Ausgangsposition für ein Gespräch hätten wir ja. Immobilieninvestoren besitzen riesige Mengen an Wohnungen, überall auf der Welt. Und ich bin die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen. Wir haben also durchaus etwas gemeinsam: das Thema Wohnen. Wir sollten zusammensitzen und uns konstruktiv unterhalten. Gemeinsam mit den politischen Entscheidungsträgern. Und der Zivilgesellschaft, also jenen, die ganz konkret unter der Wohnungssituation leiden. Denn sonst werden wir am Ende des Tages Städte haben, wo niemand mehr wirklich wohnen will. Faktum ist nämlich auch: Regierungen in vielen Teilen der Welt haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wenig um die Instandhaltung der von ihnen selbst verwalteten Sozialwohnungen geschert. Der Wohnungsbestand ist zum Teil in einem miserablen Zustand.

Fast 900 Millionen Menschen leben in Slums, 150 Millionen sind obdach- bzw. wohnungslos. Wie kann man diese Zahlen interpretieren, ist die globale Zivilgesellschaft wirklich so abgestumpft?

Das ist eine großartige Frage, eine, die ich mir auch oft stelle. Manchmal denke ich mir, warum wir nicht alle durch die Gegend rennen und uns ob der Ungerechtigkeit die Haare raufen und wild herumschreien. Zu Ihrer Frage: Ich bin mir nicht sicher, was es ist. Abgestumpftheit? Das Streben nach Reichtum? Gier? Es ist jedenfalls eine Missachtung der Menschenrechte. Für mich in meiner Arbeit ist es frustrierend und auch ermüdend. Aber jeder Mensch, den ich treffe, der in einer unzureichenden Wohnsituation leben muss, gibt mir die Energie weiterzumachen – und ermahnt mich, nicht frustriert zu sein. Weil der Wandel braucht Zeit. Ich muss mich immer auch daran erinnern, dass ich in einer privilegierten Position bin, in einer, wo ich etwas bewirken kann.

Wie löst man das Problem der fortschreitenden Verslumung?

Slum-Gebiete müssen saniert werden – das steht in den Zielen für nachhaltige Entwicklung festgeschrieben (die bis 2030 von allen UN-Mitgliedstaaten erreicht werden sollen, Anm.). Das muss von den Staaten selbst übernommen werden. Oder sie müssen gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, wo private Investoren ihren Wohnungsbestand, den sie verfallen haben lassen, wieder instand setzen müssen. Und zwar ohne dann gleichzeitig die Mieten nach oben zu schrauben. Diese Sanierung muss aber so vonstattengehen, dass auch die Menschen, die dort wohnen, mit einbezogen werden, dass sie ein Mitspracherecht haben, Ideen einbringen können. Oft sehen wir das Naheliegende nicht, nämlich, dass die Antworten bei den Menschen liegen.

Leistbares Wohnen in Städten?

In Österreich haben sich die Preise für neu vermietete Wohnungen in den vergangenen 10 Jahren um ein Drittel erhöht. Die Einkommen nur um ein Fünftel, die Inflation um 15 Prozent. In anderen Worten, Wohnen ist teuer geworden. Aus Ihrer Sicht: Ist das Lamentieren in den westlichen Ländern wegen gestiegener Wohnpreise angesichts der zuvor besprochenen Probleme nicht so etwas wie ein Luxusproblem?

Leistbares Wohnen ist ein ganz zentrales Thema. Was man wirklich nicht noch zusätzlich als Problem braucht, ist, dass neben den Bevölkerungsschichten, die ohnehin schon verwundbar sind, auch noch für die Mittelschicht Wohnen unleistbar wird. Ich weiß wirklich nicht, warum wir es zulassen, dass Immobilien-Investmentfirmen auf den Rücken der Menschen riesige Gewinne erzielen. Das leuchtet mir nicht ein. Abgesehen davon müssen wir uns aber wirklich auf den Kampf gegen Slums und Obdachlosigkeit fokussieren, dieses Problem ist prioritär zu lösen. Aber man schafft es schon auch, zwei Dinge gleichzeitig zu machen.

Wenn man sich das Leben in der Stadt nicht leisten kann – 50 Kilometer entfernt gibt’s vielleicht leistbaren Wohnraum. So viel Flexibilität muss man doch voraussetzen können, oder?

Es ist ja interessant: Es gab und gibt immer noch den Trend, dass es Menschen in die Städte zieht. Und jetzt werden sie wieder vertrieben – sie können sich die Mieten nicht mehr leisten. Aber Städte brauchen Menschen um zu funktionieren. Und die Menschen, die Städte am Funktionieren halten, sollen auch die Möglichkeit haben, dort zu leben.

Wien liegt in Ranglisten zur Lebensqualität zuletzt weltweit ganz weit oben. Gibt’s nichts mehr zu tun?

Natürlich, Wien ist großartig. Aber jeder, so auch Wien, kann immer noch dazulernen. Etwa, und davon würden die allermeisten westlichen Städte profitieren, Anleihen zu nehmen bei den besten Beispielen von sozialer Inklusion (Stärkung und Förderung von Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, sie teilhaben lassen, Anm.). Die Energie einer Stadt speist sich aus ihrer Diversität. Aus der Diversität von Kulturen und Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten. Deshalb leben Menschen gerne in Städten.

Zur Person: Leilani Farha

Die Kanadierin ist seit 2014 Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen über leistbares Wohnen als Bestandteil des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard und über das Recht auf Nichtdiskriminierung in diesem Zusammenhang. Die Rechtsanwältin ist Geschäftsführerin der NGO Canada Without Poverty mit Sitz in Ottawa. Weitere Informationen finden Sie unter www.unhousingrapp.org.

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